Regenwassertropfen fallen auf Jacken, ein Geruch von Erde steigt aus dem Untergrund auf. Die Caracalla Thermen in Rom, lat. Thermae Antoninianae, Ruinenanlage nahe Circo Massimo und Colosseo, trotzen der Zeit. Rote Ziegelsteine, meterhoch übereinandergeschichtet, zerbrochene Mosaikreste, pinienbeschattet, Besucher die Zurückgezogenheit schätzen, dem bedrängten Kolosseum entfliehend, ziehen sich hierhin zurück. Eine Tour mit VR-Brille. Ist das interessant? An diesem Ort gibt es keinen Viehtrieb der Menschenmassen, auch keine Bauzäune, die das Fleisch lenken, kein ausschlachtendes Posieren vor der überlaufenen Postkartenidylle bei gleichzeitiger Zurschaustellung eines ‚Nicht-vor-Ort-seins‘, jenes seltsame Verhalten, das anderen signalisiert ‚Ich-war-hier‘, in den Augen des Besuchenden aber nur ein ‚Bin-ich-hier?‘ geschrieben steht.

Haben Sehenswürdigkeiten einen Anspruch darauf als Ganzes wahrgenommen zu werden? Einen Anspruch auf Zurückhaltung, Anerkennung, Zeit? Nehmen wir uns noch Zeit für den Besuch eines Museums oder eines Baudenkmals, um anzuerkennen? Ja, was erkennen wir eigentlich an? Dass ein Feldherr sich ein Denkmal setzen ließ? Die Emotion, die dahinter steht? In neuester Zeit dreht sich so viel um Emotionen. Drehen Sie Ihre Betrachtung einmal um. Nicht Feldherr oder Baumeister sind groß. Sie als Besucher sind es, da durch Ihr umsichtiges Verhalten das Monument oder Fundstück erhalten oder restauriert werden kann. Vermutlich sind es tatsächlich unsinnige Arbeiten, dieses Ruinenerhalten, Knochen-, Keller- und Abfallausgraben usw. Was wenn nicht? Was wenn wir irgendwann verstehen, wohin wir gehen, weil wir wissen, woher wir kamen? Was wäre wenn?

Pinien wiegen sich sacht im Wind. Im Kartenhäuschen sagen sie, dass die Virtual Reality Tour etwa eine Stunde dauert. Nehmen Sie sich Zeit?

Was erwarten Sie? Laborschutzbrillen, durchsichtig, filigran, Zusatzinformationen auf subtile Weise in die Landschaft integrierend, eher auf Augmented Reality konzentriert, stellen Sie sich diese Brillen so vor? Eine Welt, die die andere ergänzt?
Wissen Sie, was ein Papiertheater ist? In Spielzeugmuseen ausgestellt, sind es kleine Bühnen aus Papier, die große modellhaft nachahmen, zuzuordnen dem Biedermeier, gehören sie in eine Zeit, die vom Wunsch nach Ordnung und Ruhe geprägt ist. Papierfiguren hinzufügen, Landschaften verändern, dem Wunsch des Menschen anpassen, leise, kleiner, nun digital.
Statt der roten Ziegelsteine erwarten Sie filigrane Statuen, harter Stein, der sich in zarter Pose dem Flaneur zuneigt, wenn Sie die Brille aufsetzen? Möchten Sie durch belebte Anlagen schlendern, geradeso als wären Sie wie im Papiertheater Zuschauer, nur viele Jahrhunderte vor unserer Zeit? Erwarten Sie das?

VR-Brille Caracalla Thermen

Die VR-Brille von allen Seiten betrachtend, ähnelt ihr Aussehen mehr der Klick Kamera, im Fachvokabular Diabetrachter, als der Laborschutzbrille. Erstaunlich schwer ist das Plastikgehäuse mit Sensor. Aus Sicherheitsgründen hänge ich sie mir um den Hals. Audioguides sind definitiv leichter, können auch weniger.

Zunächst bin ich enttäuscht, weil eine nummerierte Karte durch die Anlage führt. Könnte es sein, dass sie einfach die Geländekarte digitalisierten und nun dies als VR-Bezeichnen? Bitte nicht.

So schnell wie die Enttäuschung auftauchte, verschwand sie. Es wäre keine virtuelle Realität, wenn sich das 3D-Bild nicht der Blickrichtung entsprechend anpassen würde. Schon am zweiten Tourpunkt baut sich dank der VR-Brille die Alte Welt auf. Träumer. Ich laufe, die Brille staunend gegen das Nasenbein pressend, gegen eine Absperrung. Der Audioguide, praktischerweise in die VR-Brille integriert, erläutert. Es regnet, offenbar bleibt das Gerät davon unbeeindruckt. Am nächsten Tourpunkt taucht ein Angehöriger des Toga tragenden Volkes auf, sicher lange tot der gute, erläutert Baderegeln. Ob er Besucher an einen bestimmten Ort führt?

Am Ende des Korridors steht eine virtuelle Statue. In der Realität fehlt sie. Merkwürdigerweise hat man das Gefühl ständig prüfen zu müssen, ob das Gesehene wahr ist.

Korridor Ruine Caracalla ThermenKorridor Virtuell Caracalla Thermen Dem virtuellen Vergnügen soll das Wetter nicht schaden. Nieselregen, anhaltender Regen, Getröpfel, Sprühregen, ein kräftiger Schauer, kein Schirm und das Beste an meiner Virtual Reality Tour – kaum Menschen. Zugegebenermaßen rate ich von der Nutzung von VR-Brillen an Hot-Spots, den vielbesuchten Sehenswürdigkeiten, ab.

Zu hoch erscheint mir die Verletzungsgefahr – für Sie getestet, die Widerstandsfähigkeit des Gerätes gegen Gewalteinwirkungen versehentlich auch. Wollte Regentropfen vom Sensor abwischen, dann abschütteln, traf Metall, Schreckmoment, Gerät hält. Bitte nicht nachmachen.

Hingegen gewinnen gerade Ruinen wie die Caracalla Thermen an Reiz durch diese technischen Hilfsmittel. Besonders positiv fällt mir auf, dass in der virtuellen Realität Sonnenstrahlen durch Fensteröffnungen fallen. Gefangen zwischen den Fragen, was Fakt, Fiktion und Fantasie ist, äußert meine Begleitung plötzlich Begeisterung über die Tour mit virtueller 360° Ansicht.

Grundrisse, abgetragene, rohe Ziegelsteinmauern repräsentieren nur mäßig die einstige Schönheit und einigen Besuchern fehlt schlicht Fantasie. Als regennasser Paradiesvogel empfehle ich Ihnen die VR-Tour durch eine der ruhigeren Sehenswürdigkeiten Roms. Abseits des Massentourismus, platziert nahe Kolosseum und Forum Romanum, lässt es sich hier wunderbar staunen und zu gegebener Zeit für oder gegen einen Besuch der Hot-Spots entscheiden.

Die Brillen verleiten Besucher Räume virtuell zu erkunden, Schritte zu tätigen, ohne vorher zu überprüfen, ob sich Säulenbruchstücke, andere Besucher oder Abgrenzungen in der Nähe befinden. Wenngleich es verlockend ist sie ständig aufzubehalten und die Thermenräumlichkeiten auf diese Weise zu erkunden, achten Sie auf Ihre Schritte. Zwischen Ruinen plötzlich eine andere Welt zu entdecken, sich diese nicht nur vorzustellen, lässt sich am ehesten als interessante und empfehlenswerte Erfahrung titulieren. Ob für die Erschließung durch den Besucher wirklich technisches Spielzeug an jeder Sehenswürdigkeit eingeführt werden muss, sicher nicht. Ruinen allerdings profitieren sehr von der Technologie.

Es entscheidet der Einzelfall… und die Sicherungsabsperrung.