Gestern Abend bin ich um 20:00 Uhr eingeschlafen. Wie viele Stunden acht Uhr umfassten, dessen bin ich mir nicht sicher. Das Telefon sagt, dass ich mir fünf Stunden lang einredete, es sei acht Uhr. Vier Stunden später begrüßten wir einander mit einem verschlafenen ‚Morgen‘ – so gegen fünf. Licht an. Decke anstarren. Weiße Wände, weiße Zimmerdecke. Muss raus aus dem Käfig. Spazieren. Bloß nicht in den Park. Dort spielen normalerweise acht bis achtzehn ältere Herren Boccia, jeden Abend, jeden Tag – jetzt nicht. Irgendetwas muss normal sein. Nichts ist normal.

Ich starre abwägend einen roten Gott auf der anderen Seite einer asphaltierten Schlucht an. Deutsche befolgen liebend gern Regeln? Die Straße ist vierspurig. Links kein Auto zu sehen oder zu hören, rechts keines, links keines, auch keine Menschen. Wenn sich hier jemand auf die Straße legt, würde dann ein Auto vorbeikommen? Es sind Jahre vergangen, seit ich mich über die Autofahrer ärgerte, die Fußgänger und Radfahrer, andere Autofahrer gleichermaßen ignorierten und so manchen Unfall riskierten. Big City Life – wo ist meine City? Alles kommt mir trüb vor. Das Auge sieht nicht, was es kennt und der Kopf ist verwirrt.

Der rote Gott verhöhnt den Wartenden von der anderen Seite der Schlucht. Vielleicht soll ich ein Feuer entzünden und mir eine Maus braten, bis der gnädige Herr sich dazu bequemt mir seine Gunst zu erweisen? Apropos. Wo sind die Mäuse, die an den Bahngleisen entlanghuschen? Was bildest du dir eigentlich ein, mir dein Gesicht zu zeigen? Hast du kein Zuhause? Warum bist du auf der Straße und alle anderen nicht? Warum funktionierst du eigentlich? Siehst aus wie dieser eine Politiker, der das große sozialwissenschaftliche Experiment nutzt, um sich für den Wahlkampf zu stärken. Dir kann man nicht trauen, oder doch? Bist du Opportunist oder Schwätzer? Hast du kein Zuhause?

Dann wage ich etwas Undenkbares und setze den linken Fuß auf die Straße. Hier sind mehrere Krankenhäuser. Es gibt eine normale Geräuschkulisse der Krankenwägen in den Straßen, dann einen ruhigen, einen Takt für Feiertage und das erste sonnenverwöhnte Frühlingswochenende und einen, der Sorgen bereitet. Gerade ist es wieder ruhig. Die Tante ruft an, sie wünscht, dass alle die gleichen Beschränkungen auferlegt bekommen. Im Status steht jeden Tag etwas Belangloses. Aufgeregt wirkt sie. Wir stehen kurz vor einem garstigen Streit. Nicht normal. Möchtest du emotionalen Ballast abladen? Nur zu. Ganz ruhig, alles wird irgendetwas. Bleibt gesund.

Überquere die schwarze Schlucht. Dieser rote Gott, der besitzt nur die Autorität, die ich ihm zugestehe. Dass in der Zwischenzeit auf der anderen Straßenseite eine kniehohe pinke Prinzessin mit dazugehöriger guter Fee aufgetaucht ist, bemerke ich erst, als mir ein Empörtes: »Man geht nicht bei Rot über die Straße!« entgegengebrüllt wird. Und die gute Fee zetert böse: »Ja, also! Das kann doch wohl nicht wahr sein!« Dass Straßen nicht überquert werden, wenn Kinder zuschauen, gilt also weiterhin. Aha, da war sie. Das war die Normalität.

Wenn alles normal wäre, säße ich dann jetzt einem Betrunkenen in der Bahn gegenüber? Die Gesichtsfarbe leicht in das gräuliche entgleitend, die Augen verdreht, die Bierflasche in der Hand sähen wir Freitagnacht einander an. Ich dächte darüber nach, ob ich lieber jetzt oder wenn er mit dem Würgen beginnt den Platz wechseln soll. Wer würgt mir jetzt seine innere Mitte vor die Füße?

Warum schaut ihr alle auf eure Füße beim Gehen? Normal ist, dass ihr geradeaus schaut, wenn ihr durch die Stadt spaziert. Haltet ihr die Luft an, wenn ihr einander begegnet? Wo ist der Charme meiner Stadt, die so ungehobelt, unhöflich, widerlich, eklig, kreativ, verwirrt, abwägend, sachlich und ehrlich ist? Dieses Maskentragen, das ist sehr höflich. Ich schwanke mit den Emotionen zwischen ‚das ist gut‘ und ‚etwas stimmt nicht‘. Pardon, sie erinnern an Maulkörbe für bissige Hunde. Etwas wichtiges erodiert. Sehen Sie das auch so deutlich?

Zuletzt stanken die Bahnen nach Desinfektionsmittel oder Zahnarzt statt Freitagnacht. Es stinkt nicht nach dem Parfum, in dem sich Frauen und Männer gleichermaßen zu duschen scheinen, dem Parfum, das die Nasenhaare verätz und beide Lungenflügel reizt. Die dunklen Ecken stinken nicht nach alkoholversetztem Urin, die Straßen nicht nach Autoreifenabrieb und Auspuffabgasen, die Häuser nicht nach Esoterikstäbchengeruch – man erklärt mir weiterhin, das sei Gras, keine Räucherstäbchen, wenn dem so wäre, die City hätte ein Problem – es stinkt nicht nach miesem CoffeeToGo oder giftigen, im Hinterhof verbrennenden, Abfällen.

Die City duftet. Stellen Sie sich das vor. Ich kenne nur wenige größere Städte, die duften. Sie duftet nach sich in der Sonne erwärmenden Ziegelsteinen, nach trocknendem, alterndem Holz, moosbewachsenen Dachschindeln, sich erwärmendem Gummi, das die Straßenbahnschienen fasst, nach unbefahrenem Asphalt, austrocknender Erde. Die Luft ist sauber, es lässt sich atmen. Plötzlich entdecken alle das Kochen für sich. Aus angekippten Fenstern duftet es nach regionalen Gerichten, manchmal international, das hängt von der Straße ab. Es duftet. Wir sind nicht allein.

Ein paar Schritte über den Friedhof. Hier liegen normale, berühmte und Persönlichkeiten, die man aus dem Schulunterricht gern verbannt hätte. Eine ältere Frau reißt Efeu aus einer Grabeinfassung, dessen Triebe nach dem Grabmal greifen. Man hält Anstand und Abstand. Einige Gräber sind ordentlich, andere verwaist, wenige verwildert. Friedhöfe, die normal aussehen, in einer Stadt, die dörflichen Charme angenommen hat – beruhigend. Die City ist mehr Dorf als Stadt. Dorfstille überall. Kein Lachen, kein Gluckern, kein Kichern, kein Schreien, kein Brüllen, kein Flüstern, kein Beraten, kein Lästern, kein Schimpfen, kein Streiten, kein Schluchzen, kein Abwägen, kein Verhandeln, kein Anweisen, kein Anleiten, kein Versöhnen, kein Trösten, kein Belehren, kein Telefonieren, kein Singen, kein Klingeln, kein Musizieren. Normalität auf den Friedhöfen… und irgendwo brummt ein Rasenmäher… Bloß weg hier.

Die Stadtreinigung, eine Dame mit einem Handwagen, kommt den Bürgersteig entlang. Ausweichen auf die Straße, so weit, dass sie sich bedankt und mit einem Nicken grüßt. Hier ist eine große Kreuzung, mehrere Spuren, nicht nur acht, aus allen Himmelsrichtungen. Wenn sich jemand in die Mitte der Kreuzung legt, dann könnte er dort mindestens fünfzehn Minuten ungestört verweilen. Das ist die City. Plötzlich grüßt man einander mit einem Nicken. Auf dem Dorf begrüßen sich Menschen mit einem Nicken. Aus dem Auto heraus, von der Wiese, vom Feldrand, aus dem Trecker heraus, vom Hänger, vom Mähdrescher, von der Bushaltestelle, aus dem Bus, aus dem Fenster der alten Gaststätte heraus, man hebt die Hand zum Gruß, wenn ein Auto gemächlich heranschleicht, wartet. Plötzlich ist dieses Verhalten in der Stadt. Sprechen wir einander morgen mit den Nachnamen an und dem Verwandtschaftsgrad – Maiers Jüngster [48 Jahre jung], wann geht er einkaufen? – , dem Spitznamen – Grusel, welchen Stoff verwendest du für deine Maske? – oder beschenken einander mit 10-Liter-Wassereimern gefüllt mit saisonalem Obst oder Gemüse?

Diese plötzliche Höflichkeit, wie oft habe ich sie mir in der City herbeigesehnt. Es ist unnatürlich, dass sie sich so verhalten. Nicht normal.

Schlug den Weg zum Museum ein, ohne es recht zu wollen. Aus eigenem Antrieb auf die Stufen setzen, die hinauf führen, das geht nicht. Der Käfig ist größer geworden, aber ein Käfig bleibt ein Käfig, egal wie groß er ist und aus welchen Gründen errichtet.

Wir haben Glück und mir fehlt die City. Das eine Akzeptieren und sich zuversichtlich nach dem anderen sehnen. Wie ist das möglich? Heim- und Fernweh zugleich. Was für ein bemerkenswerter Gemütszustand. Wir wollen kein unübliches Anschwellen der Sirenen mehr hören müssen. Seid vernünftig.

Auf dem Rückweg einer Nonne auf dem Bürgersteig begegnet. Da steht sie in vier Metern Entfernung, die Augen weit aufgerissen, als sehe sie ein Gespenst. Weiche wieder weit auf die Straße aus. Kopfnicken. Sie ruft: »Danke«