Es sei gesagt, dass die Buchmesse 2018 von mir genutzt werden wollte, um eine aktuelle Frage zu klären. In diesem Jahr war die Frage: »Wie bereitet man eine Lesung vor?«.

Auf halber Strecke fragt eine ältere Dame, ob wir pünktlich wären. Der Schaffner antwortet stolz, dass dem so sei.
Kurz vor dem Bahnhof steht unser Zug. Gleise vereist.

Warte auf die Auktionsstimme des Schaffners.

Zehn Minuten, zwanzig Minuten, dreißig Minuten und dann…

»Werte Fahrgäste, zwischen sechzig und hundertzwanzig Minuten kann die Beräumung der Strecke dauern. Wir bitten Sie um Verständnis. Es ist Samstag. Hinter uns stehen weitere Züge, jene vor uns können den Bahnhof nicht verlassen. Wir kommen nicht rein und nicht raus.«

Schräg gegenüber sitzt ein Herr, vielleicht um die dreißig, Bart, verkneift die Mundwinkel, lacht bitter, schüttelt den Kopf.

»Ist das nicht furchtbar? Jetzt sitzen wir hier fest und das nur wegen der Bahn!«

Vor den Fenstern liegen fünfzehn Zentimeter Schnee. Es ist windig. Neuschnee fällt.

»Furchtbar wäre es auf einem kleinen Bahnhof, mit dem Wissen, dass Deutschland in frühestens einer Stunde aufwacht und Hilfe«, ich schaue auf die Uhr, »in drei Stunden wahrscheinlich wird.« Er lacht, erzählt von seiner Frau, den Kindern, Job und so weiter.

Zwei junge Männer mit Rucksack tigern durch das Abteil. Sie wollen nach Marokko. Der Schaffner ruft die Fluggäste zu sich, telefoniert mit dem Flughafen. Eine Oma, die ihr Taxi für einen späteren Zeitpunkt bestellen muss, regt sich über die Bahn auf. Per Durchsage heißt es, dass man am Flughafen alles unternimmt, um die Reisenden mitzunehmen, auffrischender Wind hinter den Scheiben.

Es ist sieben, wir stehen seit etwas mehr als einer Stunde kurz vor dem Hauptbahnhof. Nichts geht. Wir werden nach Leipzig-Tief umgeleitet. Leipzig-Tief, das sind die Schienen für die S-Bahnen, zwei S-Bahn-Gleise. Leipzig Hbf ist ein Kopfbahnhof, mehr als zwanzig Gleise, hochfrequentiert durch ICEs, Regional- und Stadtverkehr. Gern würde ich so manchen aus meiner Timeline einmal sehen wollen.

Sporadische Taschenkontrollen vor dem Messegelände.

»Waffen dabei?«

»Nein. Äpfel, Leberwurstbrötchen, Hustenbonbons. Gummitiere?«

Erste Nachrichten, dass Reisende umkehren, auf dem Display. Schalte in den Flugmodus, der Akku muss halten, mein Messeplan ist digital. Die Powerbank liegt irgendwo, aber nicht im Rucksack.

In der Glashalle ist es ruhig, als um zehn die Messehallen geöffnet werden. Es gibt einen Vortrag, den ich mir anhören möchte, danach eine Lesung. An den Besuchern vorbei rennen Aussteller, Autoren, Verleger, Besucher und fluchen darüber, dass sie nichts aufgebaut haben. Wird bestimmt ein ruhiger Messetag. Schlendere durch die Hallen. Grummelnde Messebesucher gesellen sich zu mir. Wir warten.

Sie sagen, dass es nicht sein kann, dass Veranstaltungen nicht stattfinden. Auf das Telefon deutend erkläre ich, dass es Komplikationen am Bahnhof gibt, vereiste Schienen.

Schulterzucken. Hätte man vorher wissen müssen.

Als ich wieder auf das Telefon sehe, ist der Hauptbahnhof gesperrt. Das kann niemand vorher wissen, auf zum Neuland.

Neuland 2.0

Hier stellen sich Start-ups mit ihren Ideen vor, toller Ort. Es lässt sich beobachten, wie Menschen begeistert werden. Bin davon überzeugt, dass diese Fähigkeit wichtig ist. In Schüsseln liegen Styroporbälle. Besucher dürfen mit diesen Signalisieren, wessen Idee sie am spannendsten finden. In diesem Jahr ist auch die Autorenwelt dabei.
Alle Aussteller des Neulands erzählen lachend, dass am Freitagabend der Kaffeeverkäufer Bälle stibitzte und bei jedem eine Hand voll in die Urne warf.

Buchmesse 2018 - Neuland - Aufsteller

Ein Stand ist ohne Redner. Alle nehmen sich Zeit, um ihre Idee zu erklären. Ich biete Bonbons an. Dann schleiche ich noch einmal zu den Schüsseln mit den Bällen, nehme genügend, um jeder Idee, die mir gefallen hat, einen Ball zu geben. Es schaut gerade niemand.

Leipziger Wortmeisterschaft auf der Buchmesse 2018

Brötchenkauend höre ich zu, hätte gern ein ruhiges Mittagessen, irgendwo im Schneidersitz an eine Wand gelehnt, muss im nächsten Jahr anders werden, weniger organisiert.

Thema ist der erste Satz. In meiner früheren Schreibgruppe hieß es, dass der erste Satz wahnsinnig wichtig sei. Vielleicht ist hier ein Erkenntnisgewinn für mich drin. Ob sie sich auf die Lesung vorbereitet haben?
Dem Publikum fällt die Aufgabe zu mit einem isländischen »Huh!«, Zustimmung oder Ablehnung zu bekunden.

Es gefiel den Zuhörern der Aufwurf einer Frage mit dem ersten Satz. Es fehlen Notizen. Was mir im Kopf bleibt: An einer Restaurantwand im mit Mülltonnen bestückten Hinterhof zuckte der Flügel einer festgenagelten Taube. Sie lebte noch.

Ein Bärtiger, dunkles Hammerfall-Shirt, sitzt neben mir. Wir sehen uns an, jubeln. Der Gewinner erhält einen Preis. Der Preis ist im Zug. Auch das Publikum soll einen Preis erhalten, ebenfalls im Zug.
»Huh!«

Zuhörer bei Lesungen begeistern

Im Kongresszentrum wird ein Vortrag gehalten. Langsam möchte ich am blauen Sofa sitzen und über die klugen Sätze anderer Autoren lachen. Mir sitzt aber die drohende Lesung der Schreibgruppe im Genick. Eine Frau spricht darüber, dass Bewegungen nachgeahmt werden sollen. Sie schauspielert, legt es auch uns nahe, sagt, wie wir uns stellen sollen, geht es an die wörtliche Rede.

Was gesagt wurde, liste ich hier schnell auf, ohne Rücksicht auf eigene Präferenzen. Es war die falsche Veranstaltung für mich, aber vielleicht die richtige für euch.

Zitate:

  • Ihr könntet vorgeben, dass zwei Personen auf der Bühne stehen und diese als Vortragender spielen. Erst von hier – sie wendet sich einem imaginären Gegenüber zu -, wenn Person A spricht, dann von hier – sie hüpft zur Seite, schaut den leeren Raum an, den ihr Körper füllte – , wenn Person B spricht.
  • Spielt nach, was ihr sagt. Wird die Spülmaschine eingeräumt, gebt vor, dass ihr die Spülmaschine einräumt.
  • Ein zu langsames Lesen gibt es nicht
  • Lernt euren Text auswendig
    • Hilfreicher Hinweis, dann kann das Publikum verlegen den Kopf senken, wenn du sie anstarrst, während Sie dich anstarren.
  • Macht lange Pausen.
  • Am besten ist es, wenn ihr neben dem Tisch steht.
  • sprecht deutlich und laut

 

Will die Veranstaltung nicht stören, werde es einfach aussitzen, statt den Raum zu verlassen. Sie stellt Fragen, gebe lästige Antworten. Ein Mädchen eilt zur Deeskalation, stellt irgendeinen Vergleich mit einer Schriftstellerin vergangener Jahrhunderte an. Die Dame scheint zufrieden.

Bin wütend, müssen immer Tote eigene Gedanken bestätigen?! Wer hat uns unmündig gemacht in unserem Denken, bis ein Toter – bekannter Name, andere zählen nicht – genannt wird, durch den dies bestätigt wird? Fühle mich degradiert, wieder bestohlen durch einen Namen, den ich kennen müsste. Habe nichts von ihm gelesen, wird nachgeholt.

Nach einem Halt am blauen Sofa – brauche gute Laune, kann hier lachen – kann ich wieder mit Menschen sprechen. Finde in anderen Hallen historische Romanschreiber und stelle Fragen im Takt des Axtschlages. Informationen, die sich aus dem Gespräch mit anderen Autoren historischer Romane ergeben haben und euch nicht vorenthalten werden sollen:

  • Sekundärliteratur genügt
    • Ob Primär- oder Sekundärliteratur, das muss jeder für sich entscheiden.
  • niemand muss Latein lesen können
    • Wichtiger Punkt, habe für das nächste Projekt damit begonnen zwei tote Sprachen zu lernen.
  • Literaturverzeichnisse sind wichtig
    • Jede Form der Organisation ist es, wenn es an große Projekte geht.
  • wir müssen uns alle immer in das Gedächtnis rufen Belletristik zu schreiben
  • Alles ist erlaubt, nichts wird geduldet

Kalt!

Sie trägt keine Hosen, Link Kostüm, Held aus Zelda, und wartet seit einer Stunde neben mir auf eine Straßenbahn. Ostwind krallt sich an das Messegelände. Ihre Freundin wiederholt, dass es zu voll sei, dass sie die nächste Bahn nehmen. Winke die beiden in dem Menschengedränge vor mich, sie sollen in die Bahn klettern und warte eine weitere halbe Stunde. Mir ist kalt vom Anblick ihrer nackten Beine.

Sonntag

Zu spät aufgestanden, halte ich am Bahnhof, stopfe mein Gepäck in die Fächer der Bahngepäckabgabe, knalle die Tür zu, mehrmals. Die Verriegelung reagiert nicht. Kaufe ein belegtes Brot, hüpfe in die überfüllte Bahn, versuche mein Frühstück zu inhalieren. Klappt nicht, erst atmen, dann schlucken und stopfe schließlich alles in den Rucksack. Ticketkasse, jetzt schnell Frühstücken? Zwei Happen später stehe ich am Messeschalter. Große Notiz: ESSEN EINPLANEN!!!

Gehe zu einer Buchvorstellung der historischen Autoren. Plötzlich sind zwei zusätzliche Bücher in meinem Rucksack. Jemand reicht mir einen Beutel für den Transport. Eine Frau im rosa T-Shirt steht dichter als akzeptabel neben mir. Will wissen, warum das eine Buch mitkommt, das andere aber zurückgestellt wurde. Persönliche Präferenzen, mehr nicht. Ihre Nase schiebt sich über mein Notizbuchgekritzel.
»Was schreibst du da? Meine Freundin ist Buchbloggerin, sie hat mich beim ersten Mal zur Buchmesse überredet. Jetzt komme ich jedes Jahr her, ich lese gern. Was machst du?«
Klappe das Notizbuch zu. Sie will reden, wäre unhöflich sich nicht auf das Gespräch zu konzentrieren.

Es ist bald vierzehn Uhr. Langsamlaufende häufen sich, einige Twitterati nennen sie ›Langsamlatscher‹. Es macht einen Unterschied, zu welchem Zweck die Menschen zur Buchmesse 2018 kommen. Einige wollen Vorträge hören, andere Lesungen besuchen und meine Freundin, sie will sich berieseln lassen und viele Bücher mitnehmen. Sie schlendere nur durch die Hallen, bleibe hier stehen und dort und nehme die Messe mit den Augen eines Touristen wahr. So genieße ich für einige Stunden, ihrer Empfehlung folgend, die Messe als Touri und der Rucksack wird schwerer.

Müde lande ich wieder in einem Workshop, eigentlich nur aus Neugierde, habe genug Vorschläge für die Lesung. Diesmal geht es darum, wie der/die Held/in der Geschichte das Lieblingsgetränk zu sich nimmt.
Zunächst beschreiben wir das mit:

  • Geruchssinn
  • Tastsinn
  • Warum dies das Lieblingsgetränk ist
  • Wie die Umgebung aussieht

Dann sollen wir es mit Erinnerungen verknüpfen, welche derjenige, der es zu sich nimmt, damit verbindet. Habe wieder Schwierigkeiten mich einzufinden. Das Gesagte erreicht mich nicht, bleibt ohne Buchbeispiele in meinem Kopf. Es wächst nicht der Eindruck, als würden wir dazu aufgefordert unsere eigenen Überzeugungen zu verraten also bleibe ich zum Zweck der Hoizonterweiterung. Doch dann kommt sie, die vernichtende Aufgabe. Muss mir merken beim nächsten Mal genauer die Rednerwerke unter die Lupe zu nehmen, will Kommunikationsbarrieren vermeiden.

Ohne zurückzublicken, packe ich, verlasse den Raum. War schön, muss mehr Zeit einplanen.