Auf dem Tisch liegt das Solarpanel, die Powerbank lädt gerade. Der heiße Kontinentalwind weht Pflanzenteile in mein Saftglas. Ich frage mich, ob ich wirklich Klassiker für meine Romane lesen muss.
Vor zehn Jahren begann ich die „Sagen des klassischen Altertums“ zu lesen, auch keine leichte Lektüre, denn ich bin erst bei Seite 400 von 800 angelangt. Ich lese sehr langsam Klassiker. Manche, wie die „göttliche Komödie“ empfehle ich als Hörbuch denn als haptische Lektüre. Ehe man sich in den Stil eines Buches eingelesen hat, ist es beendet. Bei manchen atme ich auf, bei anderen ärgert mich das. Was Schreibgruppen angeht, beende ich noch nicht einmal meine Vorstellungsrede – welche gut und gerne drei Sätze mit sechs Wörtern umfasst – da wird mir „Buddenbrooks“ empfohlen, DER Mann überhaupt. Den muss man gelesen haben. Ich habe ihn nicht gelesen und schreibe trotzdem meine Romane. Nicht, dass wir es nicht miteinander versucht hätten. Es ist wie eine dieser Freundschaften, die man nicht eingeht. Eigentlich halten beide Parteien viel voneinander, wissen aber nach ein paar kurzen Gesprächen bereits, dass das nichts festes ist. So geht es mir mit den „Buddenbrooks“. Ich habe sie als festes Buch, als Hörbuch, sogar als Film versucht. Wir sind uns nicht geheuer – noch nicht.
Was ist ein Klassiker?
Laut Wikipedia gilt ein Klassiker als
- formvollendet
- harmonisch
- innovativ
- qualitativ hochwertig
- generationsübergreifend
Die Wiki las die gängigen Standardwerke dreier großer Weltreligionen nicht, wie mir scheint. Gelten sie doch im wahrsten Sinne des Wortes als Klassiker. Ich finde eine große Liste des bayerischen Rundfunks zu klassischen Autoren. Geradezu stolz entdecke ich unter den aufgeführten Namen Balzac auf der ersten Seite. Das gibt ein Bienchen im Fleißheft angehender Schriftsteller.
Nein, eigentlich weine ich leise, dass auf der ersten Seite nur einer steht, den ich las. Es ist ein Gefühl des Ungenügens, des nicht Wissens, das aufkeimt.
Schön ist, was gefällt. Was nicht gefällt, ist nicht schön. Die Sagen des klassischen Altertums lese ich aus einer Schwäche für traditionelle Mythen, Märchen und Sagen heraus. Anderes las ich aus reinem Pflichtgefühl. Einige Werke Umberto Ecos gehörten dazu. »Der Name der Rose« hätte ich mir ebenso lieber als Film angesehen, denn das ganze Buch zu lesen. Bocaccios „Dekamerone“ mochte ich mehr als Dantes „göttliche Komödie“. Über Bocaccio bin ich zu Renaissancenovellen gelangt. Diese erweisen sich wiederum als kurzweilig und abwechslungsreich.
Vielleicht muss man nicht jeden Klassiker lesen und mögen. Es genügt, wenn sie nicht gänzlich von sich gestoßen werden und Neugierde auf eine Epoche erhalten bleibt, um weiterhin historische Romane zu schreiben. Eines sollte nämlich nicht verloren gehen: Die Neugierde auf das Unbekannte.
Dank Klassikern entdecke ich manchmal Bücher, die tatsächlich von Interesse für mich sind und auch aus der gleichen Epoche stammen oder ich pilgere zu einem Museum oder Ort. Dann gehe ich der Frage nach, ob der Ort die Geschichte prägt oder die Geschichte den Ort. Meist ist es letzteres. Die Potter Bücher, Asche auf mein Haupt, habe ich nie gelesen, allerdings das Café in Edinburg gesehen, in dem sie geschrieben wurden. So magisch sah es gar nicht aus. Es war ein Café wie jedes andere.
Ideengeber
In Florenz ist die Totenmaske Dantes – in einem sehr kleinen Museum in einer schmalen Seitengasse – ausgestellt. Sie kennen Dante und die Totenmaske vielleicht aus Dan Browns Buch „Inferno“ oder aus irgendeinem online Artikel, in dem ein Journalist vorgibt Dante gelesen und verstanden zu haben. Mein Anspruch reicht gar nicht so weit. Ich will ein paar Klassiker gelesen haben, um auf neue Ideen zu kommen.
Ich sah ihm in das Gesicht. Wie viele Masken er wohl trug? Fünfunzwanzig? Mehr? Weniger? Das war der Dichter schlechthin? In seinem Antlitz gruben sich die Jahre ein und die Sonne schlug Kerben. Die Augen geschlossen, das Gesicht wirkte entspannt. Ich wartete darauf, dass er sie aufschlug. Erzähl mir, was wirklich geschah, dachte ich. Dieses ganz gewöhnlich aussehende Gesicht sollte ein Werk geschrieben haben, das über Jahrhunderte hinweg Künstler beeinflusst? Der? Wirklich? Das war alles?!
In diesem kleinen Museum standen wir uns gegenüber. Auge um Auge alter Haudegen – Auge um Auge. Die Dielen knarrten, wenn ich mich bewegte und meine Schritte hallten durch die ganze Etage. Ich versuchte, die Außenkante meines Fußes auf die Dielen zu setzen und sie langsam nach innen abzurollen. Leise wie eine Katze wollte ich mich bewegen, einerseits um ihn nicht zu wecken, andererseits um zu lauschen, ob er nicht in einem Stubenbalken als Geist steckte und erzählte. Ich war die einzige Besucherin. Jede Gewichtsverlagerung reproduzierten die Dielen. Ich schaute dir in das Gesicht – und nichts geschah. Keine Magie sprang über, kein Funken der küssenden Muse, nichts. Nur das zerfurchte Gesicht eines verwitterten Mannes war hier.War ein
Klassiker nur die Totenmaske eines Dichters? Starr, unbeweglich für alle Zeit aus seiner Epoche und seinem Kontext herausgerissen?
Warum sollte ich sie lesen?
Ich lese hin und wieder Literatur aus dem Jahrhundert, das mir als Setting dient. So las ich „Glanz und Elend der Kurtisanen“ von Honoré de Balzac für mein Projekt „1789“, allerdings floss wenig davon in den Roman ein. Trotzdem kann ich sagen, dass die Stelle, an der von einem Schlagbaum vor den Pariser Toren die Rede war, mir als interessanteste im ganzen Buch erschien. Mir geht es manchmal um Alltagseindrücke, die ich suche und reproduzieren möchte. Dazu eignen sich Klassiker ganz gut.
Zuweilen vergesse ich, dass ich historische Fiktion schreibe. Dann wünsche ich mir, alles so genau und detailgetreu nachzustellen wie möglich, nur warum? Es heißt historische Fiktion, das bedeutet, dass die Fiktion in ein historisches Setting gepackt wird. Ich möchte manchmal gar nicht die ganze Wahrheit wissen und umgekehrt möchte ich sie auch nicht allen erzählen.
Einer der klassischsten Klassiker, die ich las, war wohl »Candide« von Voltaire, ein Hörbuch – zu brutal für meinen Geschmack »Die Blechtrommel« von Grass übrigens auch. Vagantendichtung, die ich las, war so grob und brutal, dass ich davon nichts mehr in die Hand nehmen werde, es sei denn ich habe vor einen wirklich verabscheuungswürdigen Bösewicht zu schaffen.
Romantisieren
Historische Romane erscheinen in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Mit der Zeit wurde ich toleranter gegenüber Recherchefehlern und etwaigen Ausprägungen meines Lieblingsgenres. Romantisieren – damit schützt sich ein:e Autor:in auch gegenüber den Gräueln eines Jahrhunderts. Autoren schaffen einen Wall für den Leser, der nicht immer alles wissen will, wenn sein Leben selbst kompliziert ist. Das kann bewusst und auch unbewusst geschehen.
Es gibt Leser, die schätzen das. Ich halte mich selbst bewusst von manchen Wissensgebieten eines Jahrhunderts fern, weil:
- ich glaube, dieses Wissen nicht zu benötigen
- zu viele Informationen an dieser Stelle störend wären
- eine Illusion geraubt wird, die ich so nicht für den Leser herstellen kann
- etwas nicht ausgeführt wird, weil die Story das gar nicht benötigt
Halten Sie sich von Klassikern fern, wenn Sie romantisieren oder dosieren Sie sie in Maßen. Sie zerstören das Schöne und ersetzen es durch etwas Grausames – die Realität. Beim Schreiben eines Buches kann man sich nicht auf alles konzentrieren. Soll es schön werden, konzentrieren Sie sich auf das Schöne, das Märchen. Es gibt immer jemanden, der bereit ist, ein Märchen zu glauben.
Juli 2, 2021 um 08:08
Hallo Claudia,
das ist ein sehr schöner Blogpost, die Frage beschäftigt mich auch immer wieder, denn bei vielen Klassikern ist heute auch nicht mehr ganz klar, warum sie so klassisch sind. Und wie du schreibst, tauchen dann im Umfeld dieses Klassikers manchmal tolle andere Autoren auf, die aber in Vergessenheit geraten sind. Da kann man dann diskutieren, wie eine Gesellschaft festlegt, was A) gut ist und B) erinnert wird.
Ich arbeite (überarbeite) auch gerade an einem historischen Thema, 12. Jahrhundert, dort, wo heute Mitteldeutschland ist. Und ich hab wahnsinnig viel gelesen in der Vorbereitung. Ich bin aber nach dem halben Parzival (eigentlich ganz unterhaltsam, wie er einen Ritter nach dem anderen in wenigen Sätzen niedermetzelt) eher zu Fachliteratur übergegangen. Genau wie du, will ich es perfekt machen, keine fachlichen Fehler einbauen, nicht zu doll romantisieren, aber die Frage ist, ob uns das als Nachgeborenen überhaupt möglich ist.
Freu mich, deinen Blog gefunden zu haben, werde ihn gleich mal als Autorenblog bei mir verlinken.
LG, Tala
Juli 10, 2021 um 11:32
Hallo Tala,
ich fürchte, dass es keine Perfektion gibt. Jeder nähert sich dem Thema ‚Historischer Roman‘ anders. Was mir vor zehn Jahren gefiel, lese ich heute anders. In erster Linie musst du dich mit deinem Thema beschäftigen und auseinandersetzen. Was du dann daraus machst, ist eine andere Frage. Mit der Zeit emanzipiert man sich auch von den eigenen Wünschen und den Erwartungen anderer. Fachliteratur ist in der Tat hilfreicher als Belletristik einer Epoche, immerhin muss die Fiktion mit ein bisschen Wissen untermauert werden. Welcher Weg der richtige ist und wie viel Energie man in ein Projekt steckt, das muss jeder für sich selbst herausfinden.
Freut mich dass dir der Blogbeitrag gefallen hat.