Mit jedem neuen Projekt beginnt eine Reise durch die Zeit. Es gibt Dinge, die will ich wissen, andere interessieren mich nicht. Weil ein Fantasyprojekt, das mich aus meiner Zahlenversessenheit herausholen sollte, erfolgreich gescheitert ist, geht es heute um die Frage: Daten, erweitern sie unser Blickfeld oder engen sie uns ein?
Ist das historische Setting systemrelevant für die Story?
Systemrelevanz ist etwas, das wir aus den großen Wirtschaftskrisen kennen. Nachrichtensprecher äußern sich mit »Too big to fail« über Unternehmen, die eine ganze Reihe anderer Unternehmen in den Abgrund rissen, würden sie insolvent.
Sind Daten von besonderer Bedeutung, lässt sich vermuten, dass sie systemrelevant sind. Vor dem Schreiben können wir herausfinden, ob wir uns mit unseren Charakteren in der Zeit so frei bewegen können, wie wir es wollen. So ungern wir es uns eingestehen wollen, wenn wir Ereignisse nachschlagen, werden das Leser auch.
Muss ich jeden einzelnen Tag kennen?
Wir können versuchen jeden Tag in unserer Geschichte abzuarbeiten. Feststellen werden wir aber recht schnell, dass wir nicht immer alles herausfinden können. Es gibt Zeiten und Leben, die gut dokumentiert sind, teilweise haben wir Zugriff auf die Dokumentation von Stunden, andere Epochen sind so morastig und widersprüchlich, wir möchten alles hinter uns lassen, weil uns ganze Jahrzehnte der Dokumentation fehlen.
Wie gesagt, von diesem Zwang, einzelne Tag vergangener Epochen kennen zu müssen, will ich mich lösen. Mit dem nächsten Projekt soll es in eine Region gehen ohne eigene Schrift. Bauwerkreste sind selten, Kultgegenstände seltener. Ich stehe vor einem russischen See, der sich als Pfütze tarnt. Der Versuch, sich von Zahlen zu distanzieren, ist ein Schritt in diese Richtung.
Kontrolle und Kollision
Mit Daten können wir Charaktere kontrollieren.
Zahlen beruhigen mich ungemein.
Sieger haben die Angewohnheit ihre Version der Geschichte zu protokollieren. Wir können uns an dem Verlauf des Scharmützels entlang gleiten lassen.
Sind Berichte nicht in ausreichendem Umfang gegeben, können wir uns auf einen anderen Punkt konzentrieren, wie die Sprache. Es finden sich Autoren, die sich nur am Rande mit epochalen, politisch relevanten Geschehnissen beschäftigen. Sie kratzen dann nur mit dem Fingernagel an den Problemen und fördern etwas ganz anderes zu Tage. Einige achten darauf, dass die Sprache des Romans sich an die Zeit anpasst, andere ignorieren sie, kümmern sich aber darum, dass Erkenntnisse aus der Archäologie einfließen und vergessen ihre Hauptfigur darüber. Der nächste Schreiber schert sich um gar nichts und will seine Aschenputtel-sucht-Prinz-Geschichte erzählen.
Schriftsteller haben die Freiheit sich nicht an wissenschaftliche Standards zu halten. Manchmal vergessen wir das, so legen wir ihnen und uns ein Korsett an.
In dem Diagramm habe ich versucht, die Kollision von historischem Kontext und Ideen gegenüberzustellen. Es ist nicht repräsentativ, die Zahlen sind frei gewählt. Es dient der Visualisierung. Die eigenen Ideen der Autoren müssten abnehmen, je näher stärker sie sich auf den historischen Kontext beziehen.
Können wir noch von Fiktion sprechen, wenn dem so ist?
Je mehr wir uns dem historischen Kontext annähern, umso eher sind wir in manchen Epochen dazu gezwungen mit der Aristokratie zu arbeiten.
Aus Briefen, die ich für das letzte Projekt las, erschienen sie mir manchmal eintönig, beinahe austauschbar, dass ich verwundert bin einige von ihnen in Schlüsselpositionen der Weltgeschichte zu finden. Ich weiß nicht, ob ich wirklich mit Aristokraten arbeiten will.
Künstlerische Freiheit oder historischer Kontext – Woran willst du dich festhalten?
Historische Romane vereinen auf sich so viele Ausprägungen und Strömungen, dass es mir schwer fällt festzulegen, zu welcher Kategorie der gehört, den ich gerade lese. Manchem ist der Kontext besonders wichtig, anderen ist es wichtig, dass eine spannende Geschichte vor opulentem Hintergrund erzählt wird. Wieder andere Autoren wollen über das historische Setting Parallelen zur Gegenwart ziehen. Der Nächste möchte unbedingt Fantasy oder SciFi einbauen.
Was ist historisch, was nicht?
Mit der Entscheidung für ein historisches Setting haben Autoren die Aufgabe zu entscheiden, in welchem Bereich sich ihr Buch finden soll.
Sind Ideen wichtiger oder möchten wir, dass unsere Figuren aktiv mit dem Setting interagieren?
Warum willst du mit deinen Figuren in diese Zeit reisen?
Es ist kein Geheimnis, dass das Setting austauschbar ist. Macht es uns etwas aus über das Litauen der Kreuzzüge zu schreiben, anstatt über die Eroberungszüge Karls des Großen? Warum wollen wir nach Frankreich, wenn wir Venezuela haben können?
Finde es heraus, dazwischen liegen Jahrhunderte. Kennst du die Antwort, entscheidest du dich bewusst für dein Setting und setzt dich nicht der Gefahr aus, deinen Roman unvollendet zu lassen. Du wirst dich für einen langen Zeitraum in diesem historischen Kontext bewegen müssen. Erspare dir die Frage »Warum hast du dir das angetan?«.
Für deinen historischen Roman fällst du unzählige Entscheidungen. Finde heraus, warum du in diese Zeit möchtest. Manchmal näherst du dich so gleichzeitig deiner Metaaussage.
Jemand sagt, du hast nicht historisch geschrieben – Was jetzt?
Hast du recherchiert und etwas übersehen, ist das so. Historische Romane sind Belletristik. Lass dich nicht unterkriegen, du kannst nicht alles wissen. So wie es ist, ist es gut und es wird reichen. Bei deinem nächsten Projekt achtest du auf etwas anderes.
Waren dir eigene Ideen besonders wichtig, hast du dich sicher trotzdem mit deinem Setting beschäftigt. Wappne dich gegen destruktive Kritik und nimm konstruktive Kritik an. Du kannst nicht auf alles achten.
Fazit
Du entschließt dich in deiner Geschichte zu unglaublich vielen Dingen. Ein historisches Setting kann deine Ideen fördern und deiner Geschichte das Fundament stellen. Es kann dir aber auch alles Entreißen.
Wie ist das bei dir? Sind Daten für dich relevant, zählt für dich die Sprache? Wo beginnt der historische Roman, wo endet er?
März 3, 2018 um 19:12
Hi! Für mich persönlich steht ganz klar die Geschichte, die ich erzählen möchte, im Vordergrund, aber ich versuche trotzdem den historischen Kontext so gut es geht authentisch einzubinden. Was nicht belegt ist, muss man sich halt rekonstruieren, denke ich, und da es eben historische *Fiktion* ist, ist das in meinen Augen auch vollkommen okay.
Von Zahlen habe ich mich schon vor einiger Zeit gelöst. Wenn ich es vermeiden kann, tauchen bei mir keine Jahreszahlen auf – LeserInnen können anhand der Geschehnisse und Details im Roman hoffentlich erkennen, in welcher Zeit wir uns bewegen. Ich selbst kenne die Jahreszahl(en) natürlich, aber ich habe genau wie du bemerkt, dass sie mich stark einschränken, wenn ich mich zu sehr auf sie einschieße. Genau daran scheiterte übrigens eins meiner Projekte, das in der Antike spielt. Da ist zu viel, das nicht belegt ist, genaue Jahreszahlen und Daten gibt es gar nicht, damit konnte ich dann nicht umgehen. Deshalb möchte ich von Zahlen und Daten ebenfalls weg und einfach lernen mich zu trauen, auch Geschichte zu rekonstruieren, die nicht belegt ist. Das soll aber nicht heißen, dass ich gar nicht mehr damit arbeite, denn was belegt ist, kann man ja wunderbar nutzen, es erspart einem die Arbeit, das alles selbst irgendwie passend zusammenzubauen.
In meinen Augen ist darüber hinaus alles ein historischer Roman, was eben einer sein möchte. Ob ich die Herangehensweise anderer AutorInnen gut finde oder nicht, ist ja eine andere Sache, aber es ist am Ende eben immer noch Fiktion und die darf bekanntlich sehr viel.
Juni 7, 2018 um 04:29
Liebe Kat,
ja, es braucht Zeit, um sich davon zu lösen.
Schade, dass dein Projekt darunter gelitten hat. Mit jeder Geschichte lernen wir zum Glück ein bisschen mehr dazu und erkennen, worauf wir achten wollen.
Aus meiner Perspektive halten sich Aufwand und Nutzen die Waage. Einerseits müssen weniger eigene Ideen eingebracht werden, andererseits beschränkt sich das Inkludieren von Vorstellungen. Hinzu kommt die Hürde alles so in einen Zusammenhang zu legen, dass Spannung entsteht.
Impulse und Denkansätze sind wichtig, auch wenn für das Gelingen der Geschichte einiges verschoben werden muss.
Dass ein historischer Roman ist, was einer sein möchte, dem kann ich nur Zustimmen.
Es freut mich, dass du dir die Mühe gemacht hast, einen ausführlichen Kommentar zu schreiben, danke dafür.
Liebe Grüße
Claudia