Verwandte und Freunde fragen Eltern, noch bevor das Kind die Welt erblickt: »Junge oder Mädchen?« Ist das Geschlecht des Hauptcharakters so wichtig?
Geschlecht des Hauptcharakters in Gegenwart und Vergangenheit
In ›Friedhof der Unschuldigen‹ von Andrew Miller begegnen wir einem männlichen Helden in Paris.
Im Buch, das mich an Patrick Süskinds ›Das Parfum‹ erinnerte, aufgrund des olfaktorischen Bezugs einiger Beschreibungen, reisen wir mit einem Ingenieur in das Jahr 1785. Dieser soll den Cimetière des Innocents (Friedhof der Unschuldigen) umbetten. Eigentlich möchte er lieber Brücken bauen, aber der stinkende Friedhof bringt ihm Geld ein. Im Schloss wird ein Elefant, mit Wein verköstigt, vor aller Augen verborgen gehalten.
Faustschlägen auf Massivholztischplatten gleich treffen einige Passagen den Leser, aber nicht gemein, nicht bösartig. Es ist, als wolle der Erzähler etwas zeigen, als empöre er sich über das, was da geschieht, als rufe der Erzähler: »Schau dir das an. Schau dir das an! IST DAS NICHT UNGERECHT?«
Die zwei Frauenfiguren, die mir im Gedächtnis geblieben sind, sind seine Mutter und Jeanne, die Enkelin des Totengräbers. Sie sind, außer für die Familiären und amourösen Probleme des Ingenieurs, nicht weiter von Belang, wie mir schien.
Eve de Castro nimmt uns mit in das Jahr 1748 mit ›König der Schelme‹. Hier begleiten wir den zwergenwüchsigen Józef Boruwłaski, eine historisch belegte Persönlichkeit, verkauft von der bitterarmen Mutter, wächst er mit der Schulbildung eines Adeligen auf. In der Aristokratie jener Zeit gilt es als besonders fein, wenn man sich einen Zwergenwüchsigen hält. Józef verliebt sich bald und will sein Glück als selbständiger Mann versuchen, bei seinen Besitzerinnen erregt dies Unmut.
Die überwiegend weiblichen Figuren kommen in diesem historischen Roman nicht gut weg. Anzumerken ist, dass das Buch sich an den Tagebüchern des Józef Boruwłaski orientiert.
Süskinds Erzähler zeigt uns in ›Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders‹ mit seinem Jean-Baptiste Grenouille die Welt ausgehend vom Jahr 1738, auch hier die Figur, deren Geschichte wir erfahren, männlich. Sein Held will das weltbeste Parfum herstellen, muss dafür aber zum Mörder werden. Weibliche Figuren, wenn sie denn auftreten, sind entweder geldgierig, garstig oder kurz nach der Begegnung mit Jean-Baptiste nackt und tot.
Honoré de Balzacs ›Glanz und Elend der Kurtisanen‹ habe ich bisher nur zur Hälfte gelesen, wage aber nicht auf ein moderates Ende zu hoffen. Auch hier das Problem der überwiegend männlichen Figuren und Esther, die, verliebt in den Herren Lucien, als ehemalige Kurtisane, vor dem Suizid gerettet, in ein Kloster gesperrt, in ein Haus über Jahre eingepfercht und schließlich wieder mit der Zustimmung ebenjenes, ! in sie verliebten ! , Lucien verkauft werden soll. Er soll derweil in die Politik einsteigen.
Hier ist anzumerken, dass der erste Teil des Buches 1838 erschien und somit ein Gesellschaftsroman ist aus ebenjener Epoche. Erziehungs- und Umgangsformen, die dieser Periode entstammen, dürfen berücksichtigt werden. Über die Darstellung der weiblichen Figur/en schweige ich.
Bei jeder Geschichte stellt sich die Frage, mit wem der Leser auf die Reise gehen soll. Historische Romane sind fiktional. Ist es überhaupt von Belang mit wem wir in welche Epoche Reisen?
Vorteile eines Helden:
- Helden können sich anders Bewegen, es gibt andere gesellschaftliche Normen
- Müssen keine Kinder fürchten
- Alles ist ehrenhaft, weniges schamhaft
- Primärquellen der jeweiligen Epoche sind oft aus der Sicht von Männern geschrieben
Nachteile eines Helden:
- Zementierung von Rollenbildern
- Weniger Freiheit bei Ideen
- Tagebucheinträge über das Essen bei Oberstleutnant von und zu Langweilig dürfen gelesen werden
Vorteile einer Heldin:
- Weniger Primärquellen bieten mehr Freiheit für eigene Ideen
- Aufbrechen von Strukturen möglich
- Parallelgesellschaften können erzählt werden
Nachteile einer Heldin:
- Rolle der Mutter, Jungfrau und/oder Hure für diese wird unbewusst vorausgesetzt
- Wenige Primärquellen von Frauen (Briefe, Tagebücher usw.)
- Einschränkungen, Richtlinien, Regelwerke, die das ganze Leben bestimmen, scheinen lauter zu sein, als die wenigen Stimmen, die es durch die Zeit geschafft haben
Besonders die ungleiche Verteilung der Geschlechter in den Primärquellen stellt eine Herausforderung dar. Auf die Idee, dass auf Literatur aus der Zeit zurückgegriffen werden kann, folgt Ernüchterung, da auch hier Frauen nicht besonders zahlreich vertreten sind. Zeitzeugenberichte kommen also weiterhin meist von männlichen Vertretern. Hinzu kommt, dass diese selten aus den unteren Gesellschaftsschichten stammen.
Wenn nun die Damen aber eher unsichtbar und stumm sind, auch für nachfolgende Generationen und so wie untere Gesellschaftsschichten wenige Spuren hinterlassen haben, oder weggesperrt wurden, kann der Suchende sich dann überhaupt ein Bild machen? Wird die historische Umgebung für diesen Fall als Kulisse benutzt? Nur als Kulisse benutzt?
Historische Romane sind fiktionale Werke. Sollten nicht die Möglichkeiten unserer Zeit genutzt werden, um auch mit weiblichen Hauptfiguren zu reisen? Ist es irrelevant, mit wem wir die Reise durch die Geschichte machen? Muss die Hauptfigur, wenn maskulin, dem typischen Heldenideal entsprechen?
Junge oder Mädchen?
Postskriptum: Dass alle aufgelisteten Bücher im 18. Jahrhundert spielen, ist Zufall, wenn ich etwas sehr schönes oder aufregendes in der Mittelalter-, Auslands- oder Antikenabteilung finde, werde ich es mit euch teilen.
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