Boshaftigkeit setzt sich in mir fest.
Im Oktober letzten Jahres, der Nanowrimo stand bevor, ich wollte etwas lesen, das nicht im Zusammenhang stand mit der aktuellen Geschichte, suchte ich mal wieder das Magdalenenhochwasser. Eine Naturkatastrope, die sich über das ganze Land, von Schwaben nach Schwerin von Bayern bis nach Hamburg erstreckte, Rhein, Oder, Elbe nicht verschonte und alles in allem gut dokumentiert sein sollte… sollte! Mitte November, ich war gerade in Rom, es sind dann nicht so viele Touristen in der Stadt, fiel die Entscheidung, dass einfach das Naheliegendste als Setting genutzt wird. Der Zeitstrahl in meinem Notizbuch zeigte mir bald nach dem großen Hochwasser von 1342, resultierend aus der VB-Wetterlage (benannt nach dem deutschen Meteorologen Wilhelm Jacob van Bebber), die Pest. Dieses Ereignis ist besser dokumentiert. Zig Bücher über meine Zielregion zum Magdalenenhochwasser gelesen, noch mehr zur Pest – es gab einfach mehr Literatur dazu. Die Verbindung ziehen, schon möglich, die Infos sind da, auch die zu Mikro- und Makroökonomie, aber letztlich wird alles Zufall sein. Erst im Januar, eine Zeitung, die sich forschungsnah gibt, schrieb aufgeregt über einen neuen Virus in China, dämmerte mir, dass ich bei der Flut hätte bleiben sollen. Mit Freunden im Restaurant, wir lauschten kurz zuvor einem Beethovenkonzert, war mir wichtig, dass sie davon erfuhren. Alles passte zusammen. Das, was ich zur Pest in der Forschungsliteratur las, das Verhalten der Behörden in den Nachrichten.
Wie sich die Stimmung in diesem kleinen Lokal veränderte…
»Diesmal muss ich mir nichts zusammenreimen. Ich nehme einfach die Nachrichten und fülle die paar Lücken.« , sagte ich. Dann im ernsten Ton: »Wir könnten schlimme Probleme bekommen, wenn der Erreger entkommt – die vielen Toten sind nur eines.«
Es dauerte noch eineinhalb Wochen, bis die Information in den Tagesnachrichten auftauchte. Eineinhalb Wochen. Und oh weh, wie furchtbar ist die Erkenntnis.
Boshaftigkeit setzt sich in mir fest. Die war schon vorher da, aber jetzt ist es wichtig, dass Menschen nicht demoralisiert werden. Mir fällt es schwer nur Verständnis und Rücksicht zu üben, aber man will hinterher auch miteinander auskommen. Trotzdem habe ich das Bedürfnis alles zu zerschlagen und von vorn zu beginnen. Ich will alle in den Arm nehmen, die ganze Welt trösten, aber da ist niemand.
Eine gerechte Welt für alle, für jeden einzelnen Menschen auf dem Planeten, ist das denn zu viel verlangt? Ich will nicht mehr ansehen müssen, wie sich das Krebsgeschwür ‚Zivilisation‘, das nur darauf aus ist Mensch und Natur zu zerstören, sich weiter mit Lichtern und Straßen durch Landschaften frisst. Will nicht mehr zurück in die Welt, die ‚Schneller, schneller – mehr, mehr‘ schreit, von Gier zerfressen ist und nicht bemerken will, dass nur wenige davon profitieren. Wir leben in einer wohlhabenden Region der Welt. Eine Bekannte, macht etwas mit Abgaben, flucht darüber, dass sie so wenig ausrichten kann gegen die Ungerechtigkeiten, die ihr begegnen. Darüber, dass sie machtlos ist und nichts an der Böswilligkeit, Verschlagenheit, Hinterhältigkeit einiger weniger ausrichten kann, darüber flucht sie.
Für gewöhnlich schaue ich zum Frühstück einen Teil eines Horrorfilms. Ich denke, dass ich danach vom Tag verlangen kann, dass er besser wird und dass alle anderen erwarten können, dass ich nett und hilfreich ihnen gegenüber bin. Der Tag hätte sein können wie ein Horrorfilm, wie ‚Funny Games‘ hätte er sein können – aber wir sind zivilisiert, gebildet. Derzeit wird der Horrorfilm von den Nachrichten abgelöst. Schauen Sie sich das noch an? Diese Zählmaschine? Ziehen Sie sich aus Selbstschutz zurück? Lesen Sie noch Zeitungen?
Die letzte mainstream Zeitung konzentriert sich darauf mit dem Finger zu zeigen, mal hierhin, mal dahin. Dann ist wieder jener Schuld, weil er dies oder das gemacht hat, weil er im Urlaub in den Bergen war, weil in den Bergen der Betrieb weitergeführt wurde, obwohl doch die Krankheit schon im Umlauf war und dann ist der Nächste dran:
– Sind nicht eigentlich die Italiener schuld? Sind die Chinesen schuld? Sind die deutschen Touristen schuld? Sind die Reiseziele schuld? Irgendjemand muss doch die Schuld tragen! Wenn nun alle Schuld auf sich geladen haben und man den einen nicht am äußeren Aussehen erkennen kann? Bedenken die denn nicht, was sie anrichten? Homeoffice – wie Sie sich den Mist schön reden können. Mit Kindern daheim – den Nachwuchs beschäftigen, Schulstoff nachholen und vor anderen Eltern bei der nächsten Elternversammlung glänzen. Überarbeitung des Schulsystems – Lehrer am Limit. Lesen Sie unseren Artikel zum Laufsport – nennt sich Joggen – total angesagt! Wer trägt die Schuld? –
Boshaftigkeit setzt sich in mir fest.
Plötzlich las ich ihre Artikel nicht mehr, kann sie nicht mehr lesen. Die Artikel dieser letzten Zeitung, die eigentlich als gemäßigt gilt, sie lesen sich mittlerweile wie das Gutachten, das König Philipp VI in Auftrag gab, um die Ursachen der Pest zu klären & Gegenmittel zu empfehlen:
Wir, die Mitglieder des Collegiums der Ärzte zu Paris, haben nach reiflicher Überlegung und Beratung über das jetzige Sterben den Rat unserer alten Meister in der Kunst eingeholt und wollen hiermit die Ursachen dieser Pestilenz deutlich und offener an den Tag legen, als nach den Regeln und Grundsätzen der Astrologie und Naturwissenschaft geschehen könnte. Demnach erklären wir: Es ist bekannt, dass in Indien [Die WHO empfielt dieser Tage, kein Land zu stigmatisieren], in der Gegend des großen Meeres, die Gestirne, welche die Strahlen der Sonne und die Wärme des himmlischen Feuers bekämpfen, ihre Macht besonders gegen das Meer ausübten und mit seinen Gewässern heftig stritten.
Daher entstehen oft Dämpfe, welche die Sonne verhüllen und ihr Licht in Finsternis verwandeln. Diese Dämpfe wiederholen ihr Auf- und Niedersteigen achtundzwanzig Tage lang unaufhörlich, aber am Ende wirkten Sonne und Feuer so gewaltig auf das Meer, dass sie einen Teil desselben an sich zogen und sich das Meeresgewässer in Dampfesgestalt emporhob. Dadurch wurden nun in einigen Gegenden die Gewässer dermaßen verdorben, dass die Fische in denselben starben. Dieses verdorbene Wasser aber konnte die Sonnenhitze nicht verzehren, und ebenso wenig konnte anderes gesundes Wasser, Hagel oder Schnee und Reif daraus entstehen. Vielmehr verbreitete sich dieser Dampf durch die Luft in viele Weltgegenden und hüllte dieselben in Nebel ein.
Solches geschah in ganz Arabien, einem Teil von Indien, auf Kreta, in den Ebenen und Tälern Mazedoniens, in Ungarn und Albanien und Sizilien. Kommt eben dasselbe nun auch noch nach Sardinien, so bleibt kein Mensch am Leben, und das gleiche wird auch auf allen Inseln und in den anstoßenden Ländern der Fall sein, wohin dieser verdorbene Seewind (…) kommt oder bereits gekommen ist, solange die Sonne im Zeichen des Löwen steht. Wenn die Bewohner jener Gegenden nicht nachfolgende oder ähnliche Mittel und Vorschriften anwenden und befolgen, so künden wir ihnen den unausbleiblichen Tod an, wenn anders die Gnade Christi ihnen das Leben nicht erhält… (…)
Es wird demnach binnen zehn Tagen und bis zum 17. des nächsten Monats Juli dieser Nebel sich in einen stinkenden, schädlichen Regen verwandeln, wodurch die Luft wieder sehr gereinigt werden wird. Sobald nun dieser Regen sich durch Donner oder Hagel ankündigt, soll jedermann von euch sich vor der Luft hüten und sowohl vor als nach dem Regen starkes Feuer von Rebholz, grünem Lorbeer oder anderem grünen Holz anzünden. (…)
Bevor nun die Erde nicht ganz wieder ausgetrocknet ist und noch drei Tage danach soll niemand auf das Feld gehen. Während dieser Zeit soll man nicht vielerlei Speise zu sich nehmen und sich vor der Kühle des Abends, der Nacht und des Morgens in Acht nehmen. Schwimmendes oder fliegendes Geflügel, junge Schweine, altes Ochsenfleisch und überhaupt fettes Fleisch soll man nicht essen. Dagegen esse man Fleisch, das ein gehöriges Alter hat, warmer, trockener Natur ist, keineswegs aber hitzend und reizend. Brühen mit gestoßenem Pfeffer, Ingwer und Gewürznelken versetzt soll man essen, besonders sollen das jene tun, welche gewohnt sind, mäßig und mit Auswahl zu speisen. Schlafen bei Tage ist nachteilig; man schlafe nachts bis Sonnenaufgang oder etwas länger… mit Regenwasser soll man nicht kochen, und jedermann hüte sich vor dem Regen… (…) Das soll sich jedermann wohl gesagt sein lassen, besonders jene, die am Meere oder auf einer Insel wohnen, wohin der schädliche Wind gedrungen ist.
Schmölzer, Hilde (1985): Die Pest in Wien, S. 32-34
Dann kocht in mir der Satz eines Statistikprofessors, bekannt als Dr. Acula, hoch: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Das macht mich wütend. Dann Nachrichten aus Indien, die vielen Tagelöhner, die von der Hand in den Mund leben, geschlagen werden, weil sie heim wollen, eingesperrt werden, weil sie heim wollen, heim wollen, weil man ihnen gesagt hat: ‚Geht heim!‘ Und… ‚Mein Gott, was habt ihr verbrochen, um das zu verdienen?‘. Der Blick auf die, deren Länder verwüstet sind von bewaffneten Auseinandersetzungen, und… ‚Was habt ihr eigentlich der Welt angetan?‘. Dann der Blick auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und ‚Ihr habt den Typen nicht verdient. Wir alle haben euch als Weltwirtschaftsmacht nicht verdient. Die Krise von 2008, die hat Europa nicht vergessen. Warum rechne ich damit, dass ihr eure Probleme wieder auf alle anderen abwälst?‘
Boshaftigkeit setzt sich in mir fest.
Lese zur Ablenkung etwas zur Monopolbildung des Rates in der kleinen mittelalterlichen Stadt. Für gewöhnlich beruhigt der sachliche Ton der Wissenschaften. Sich verstärkende Ungleichheit, Ungerechtigkeit steht in dem Buch. Alles wie immer! ALLES WIE IMMER! Diese kleine Stadt mit ihren engen Gassen, dem Fischmarkt, der Festung auf der Anhöhe, den Klöstern in ihrer Mitte, den Spitalen, den Politikern, der Wirtschaft, den Menschen, freigeistigen Häretikern. Und dann ist er da wieder: Boshaftigkeit setzt sich in mir fest. Plötzlich taucht bei Twitter ein Video auf, das eine Art Priester zeigt, der die Krankheit mit Worten bannen will. Erst denke ich: ‚Das ist wie bei ihren Dämonenhorrorfilmen. Jetzt stellt sich da ein Schamane hin, spricht seine Zauberformeln und dann wird alles gut oder schlimmer.‘
Wann kommen die Geißler? Kurze, sich nicht auf Vollständigkeit verlassende Zusammenfassung: Das waren Menschen, die sich selbst geißelten, um sich von ihren Sünden zu reinigen und von Stadt zu Stadt zogen, um dem Übel der Welt eine Art katholische Laienbewegung entgegenzusetzen, die nicht vom kirchlichen Reichtum durchzogen war. Einige schrieben sich übernatürliche Kräfte zu, mit magischen Formeln sollten die Kranken geheilt, der Teufel ausgetrieben werden.
Und dann frage ich mich, was wir uns mit diesem Video ansehen und in welchem Jahrhundert ich lebe. Das ist alles so…
Das sollte alles so weit weg von der Zeit sein, in der wir leben. Ich weigere mich zu glauben, dass wir die gleichen Fehler machen… wieder und wieder und wieder und wieder und wieder.
Dann muss ich wieder nett sein, die Boshaftigkeit ablegen.
Die Welt gehört den Lebenden.
Wir sollten uns eine bessere gestalten. Finden Sie nicht auch?
Dieser Beitrag ist wenig historisch, wenn wir von dem vermutlich verwirrenden Zitat absehen. Es besteht keine Kooperation zu den Autoren oder Verlagen der aufgeführten Bücher. Werbung ist, falls entstanden, unbezahlt. Falls Sie sich doch lieber mit der Pest beschäftigen wollen oder den Geißlern oder dem Magdalenenhochwasser, hier ist eine gekürzte Literaturauswahl:
Schmölzer, Hilde (1985): Die Pest in Wien, Wien: Österr. Bundesverl. (Ein Österreich-Thema aus dem Bundesverlag)
Erbstößer, Martin (1970): Sozialreligiöse Strömungen im späten Mittelalter – Geißler, Freigeister und Waldenser im 14. Jahrhundert, Berlin: Akad.-Verl. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte).
Winiwarter, Verena; Bork, Hans-Rudolf (Hg.) (2014): Geschichte unserer Umwelt – Sechzig Reisen durch die Zeit, Darmstadt: Primus-Verl.
Bork, Hans-Rudolf (Hg.) (2006): Landschaften der Erde unter dem Einfluss des Menschen, Darmstadt: Wiss. Buchges.
Würth, Ingrid (2012): Geißler in Thüringen – Die Entstehung einer spätmittelalterlichen Häresie, Teilw. zugl.: Univ., Diss., Jena, 2011 u.d.T.: Würth, Ingrid: Die Geißler in Thüringen im 14. und 15. Jahrhundert. Berlin: Akademie-Verl. (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit)
Nitz, Thomas (2005): Stadt – Bau – Geschichte Stadtentwicklung und Wohnbau in Erfurt vom 12. bis zum 19. Jahrhundert, Zugl.: Bamberg, Berlin, Univ., Diss. Erstausg., 1. Aufl. Berlin: Lukas-Verl. (Erfurter Studien zur Kunst- und Baugeschichte)
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